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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 23.06.2010


Hilfsprojekt der Charité gestartet. Beende dein Schweigen - Nicht dein Leben
Miriam Hutter

Junge Frauen aus türkischstämmigen Familien in Deutschland begehen etwa doppelt so oft einen Suizidversuch wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Zu den Ursachen gibt es gut begründete...




... Vermutungen, aber zu wenig wissenschaftliche Fakten. Ein vom Bundesforschungsministerium finanziertes Vorhaben unter der Führung der Psychiatrie der Charité (Campus Mitte) untersucht nun die genaueren Zusammenhänge, wobei es vorrangig um konkrete Hilfestellung geht.

Am 22. Juni 2010 fand an der Charité die Auftaktveranstaltung des Projekts "Beende Dein Schweigen, nicht Dein Leben" in Anwesenheit statt von Gesundheitsministerin Katrin Lompscher, dem Staatssekretär für Wissenschaft, Dr. Hans-Gerhard Husung, der Leiterin des Projekts Dr. Meryam Schouler-Ocak und Prof. Andreas Heinz, Direktor der Psychiatrie an der Charité. Initiator des Forschungsprojekts "Suizidraten und Suizidprävention bei türkischen Frauen in Berlin" ist die Psychiatrie der Charité Berlin, SpiMig-Team (Suizidpräventionsinitiative für Frauen mit türkischem Migrationshintergrund). Es wird unterstützt vom UKE Hamburg, dem Krisendienst Berlin Mitte sowie dem Berliner Bündnis gegen Depression.

© Miriam Hutter, AVIVA-Berlin


Die Tatsachen

Internationale Statistiken haben gezeigt, dass die Suizidraten bei Menschen mit türkischem Migrationshintergrund generell niedriger sind als bei Einheimischen, und dass die Rate auch nach Auswanderung der des Herkunftlandes entspricht. Fachleute gehen davon aus, dass der größere Zusammenhalt in der türkischen Gesellschaft sowie religiöse Verbote für die dort geringere Selbsttötungsgefahr ursächlich sind. Erschreckenderweise ist dies bei Mädchen und jungen Frauen in Deutschland mit türkischem Migrationshintergrund aber anders: Die Häufigkeit von versuchten und vollendeten Suiziden ist bei ihnen annähernd doppelt so hoch wie bei gleichaltrigen Frauen aus deutschen Familien. Zudem findet die Verzweiflungstat bei ihnen meist in einem früheren Alter statt.

Was bisher über die Ursachen bekannt ist

Unbestritten ist, dass neben biologischen auch seelische und soziale Faktoren bei der "Anfälligkeit" für Suizide eine Rolle spielen. Migration kann dies verstärken, und zwar auch bei Frauen der 2. und 3. EinwandererInnengeneration. Gerade für junge Frauen aus türkischstämmigen Familien ist der Konflikt zwischen traditioneller Rollenerwartung und moderner Lebensform im Aufnahmeland eine oft nur schwer lösbare Belastung. Ein Beispiel ist eine von Eltern und männlichen Familienmitgliedern nicht akzeptierte Liebesbeziehung. Hinzu kommt oft die Erfahrung von familiärer Gewalt sowie von Stigmatisierung und Ausgrenzung durch die deutsche Gesellschaft. Ferner sind die Vorstellungen und Erklärungsmodelle zu seelischen Krankheiten zwischen den verschiedenen Gesellschaften oft sehr unterschiedlich. Womöglich ist dies – neben sprachlichen und sozialen Barrieren – eine Erklärung dafür, dass Menschen mit Migrationshintergrund Angebote des Gesundheitssystems weniger wahrnehmen, was ganz besonders psychotherapeutische Einrichtungen betrifft.
Gesundheitsministerin Lompscher wies darauf hin, dass "die Anzahl der Selbsttötungen, Selbsttötungsversuche, [...] einer der Indikatoren für die Sensibilität und die Qualität des medizinischen und psychosozialen Versorgungs- und Hilfesystems " ist. Um dieses für Frauen mit türkischem Migrationshintergrund zu verbessern, ist ihrer Meinung nach eine "interkulturelle Öffnung" auch im medizinisch, psycho-sozialen Bereich notwendig: "Gerade das psychiatrische Hilfesystem muss in Beratung und Betreuung zwingend den kulturellen Hintergrund der Klientinnen und Klienten berücksichtigen."

Vorgehensweise und Ziele des Projektes

Da die Daten zur Suizidalität von türkischen Migrantinnen in Deutschland (wie auch in anderen europäischen Ländern) noch recht lückenhaft sind, werden in der ersten Phase des Forschungsprojekts Erkenntnisse gesammelt. Dazu wenden sich die StudienmitarbeiterInnen an sämtliche Notaufnahmen in Berlin und in Hamburg um dort nicht personenbezogene Daten zu den Suizidversuchen und den Beweggründen der Frauen zusammenzutragen. Die Suizidversuchsraten von Frauen mit türkischem Migrationshintergrund werden im Verlauf von zweieinhalb Jahren erhoben.
Um vergleichen zu können, welche Maßnahmen den betroffenen Frauen helfen können, wird der "Interventionsteil" des Vorhabens ausschließlich in Berlin durchgeführt, die entsprechende Gruppe in Hamburg dient als Kontrolleinheit. In Berlin werden sowohl Multiplikatorinnen mit gutem Zugang zur Zielgruppe (erwachsene Frauen mit türkischem Migrationshintergrund) als auch Mitarbeiterinnen aus Medizin, Pflege, Psychologie und Sozialpädagogik als Ansprechpartnerinnen für suizidgefährdete Mädchen und junge Frauen trainiert. Ferner wird, zunächst über den Zeitraum von neun Monaten, eine Hotline für Hilfesuchende eingerichtet, und zwar beim Berliner Krisendienst (Region Mitte). In dringenden Fällen wird auf eine spezielle Sprechstunde der Psychiatrischen Uniklinik der Charité hingewiesen, die im St. Hedwig-Krankenhaus angesiedelt ist.

Die Medienkampagne

Lompscher lobte das Engagement der InitiatorInnen bei der Pressekonferenz: "Was ist der Ausgangspunkt für diese Kampagne? Sie wollen damit Leben retten, lebensrettendes Engagement nicht nur zeigen, sondern angehen. Sie wollen mit dieser Medienkampagne die Situation junger Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in schwierigster Lebenslage verbessern."

© Miriam Hutter, AVIVA-Berlin


Das Projekt wird begleitet von einer ebenfalls am 22. Juni 2010 gestarteten, sechs Monate dauernden Medienkampagne, die unter anderem unterstützt wird von den türkischstämmigen Popsängerinnen Bahar Kizli (Monrose) und Aziza A, die in der Broschüre auf türkisch und deutsch Mädchen und Frauen mit Suizidgedanken dazu ermutigen, die gebotene Hilfe anzunehmen und sich an die (kostenpflichtige) Telefonhotline zu wenden. Zum anderen soll die allgemeine Öffentlichkeit – insbesondere aber Familien mit türkischem Migrationshintergrund - für das Problem sensibilisiert und darüber informiert werden, dass es Hilfsmöglichkeiten gibt. Dies geschieht mit Hilfe von zweisprachigen Plakaten, Anzeigen, U-Bahn-TV, türkischen Radiospots und verstärkter Pressearbeit. Auf den Plakaten und Anzeigen sind zwei Hälften eines Mädchengesichts zu sehen. Die eine Gesichtshälfte, in dunkleren Tönen gehalten, weint, die andere, in helleren Farben dargestellt, lacht. Unterteilt werden die beiden Gesichtshälften von einer Telefonschnur, an deren Ende der Hörer hängt. Die Botschaft: Nur ein Telefonanruf trennt dich von der Aussicht auf ein besseres Leben.

In einer an die Kampagne anschließenden Phase werden die beteiligten WissenschaftlerInnen auswerten, wie weit solche Interventionen die Häufigkeit von Suizidversuchen bei jungen Frauen aus türkischstämmigen Familien verringern können. Die Projektverantwortlichen hoffen, dass sich diese Erfahrungen und Erkenntnisse auch auf andere Gruppen und Regionen übertragen lassen und wollen schließlich ein entsprechendes Handbuch herausgeben.


Weitere Informationen finden Sie unter:

Internetseite deutsch: www.beende-dein-schweigen.de

Internetseite türkisch: www.suskunlugunasonver.de

www.charite.de/psychiatrie/forschung/migration.html

Hotline (von 9:00 bis 16:00 Uhr geschaltet, kostenpflichtig): 01805-22 77 07

Und bei:
Dr. Meryam Schouler-Ocak
Psychiatrie der Charité, CCM
Tel.: 030/2311-2786
Email: meryam.schouler-ocak@charite.de

Meryam Schouler-Ocak wurde 1962 in der Türkei geboren und ist heute Psychiaterin, Neurologin, Psychotherapeutin und Traumatherapeutin. Sie ist leitende Oberärztin an der Psychiatrischen Uniklinik der Charité im St.-Hedwigs-Krankenhaus. Zudem leitet sie das Bündnis gegen Depression in Berlin und die Arbeitsgruppe Versorgungs- und Migrationsforschung an der Charité.



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Beitrag vom 23.06.2010

AVIVA-Redaktion